Essais

Usus mundi oder die Kunst des ReisensDie wörtliche Haltung

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Die wörtliche Haltung

Er ist nicht unnütz, wenn man voraussieht zu reisen, folgenden Auszug aus der Arbeit von Edward Saïd, „Der Orientalismus“, über was der Autor „die wörtliche Haltung“ nennt, noch einmal durchzulesen :

„Zwei Situationen begünstigen die wörtliche Haltung. Die erste ist diejenige die erscheint, wenn ein Mensch mit etwas verhältnismäßig Unbekanntem, Drohendem und welches, bis dahin, weit weg von ihm war in Kontakt kommt. In diesem Fall ruft er nicht nur alles, was in seiner eigenen Erfahrung dieser Neuheit ähnlich ist zu Hilfe, aber auch was er über das Thema gelesen hat. {…} Der zweite Umstand, der die auf Texten bezogene Haltung begünstigt, ist ihr sichtbarer Erfolg. Es ist nicht leicht, auf einen Text zu verzichten, der vorgibt, Kenntnisse über eine Wirklichkeit zu enthalten. Man verleiht diesem Text den Wert einer Expertise. Die anerkannten Meinungen von Gelehrten, Institutionen und Regierungen kann noch dazu hinzukommen, welche dem Text noch ein größeres Prestiges verleihen als die blosse Garantie eines praktischen Erfolges. {…} Mit der Zeit ergeben diese Kenntnisse und diese Wirklichkeit eine Tradition, oder was Michel Foucault eine Rede nennt, {welche nach Flaubert zu einem} Katalog der überkommenen Vorstellungen zusammengefasst werden kann.“

Keiner kann vermeiden, beim Projekt einer Auslandsreise seiner eigenen wörtlichen Haltung zu begegnen, insbesondere wenn der Reisende vorhat, sich in ein Land zu begeben, welches von der öffentlichen Gerüchteküche als anrüchig darstellt wird : verbreitete Kriminalität, häufige Entführungen, dauernder Terrorismus, die Menschenrechte missachtende Diktaturen, drückende Polizeistaaten, Schurkenstaaten oder gar Mitgliedstaaten der „Achse des Bösen“, alle möglichen Anschuldigungen und Gerüchte werden ununterbrochen durch die führenden Medien und in politischen Reden verbreitet. In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant, die von den Aussenministerien im Internet verbreiteten Ratschläge über die verschiedenen Länder durchzulesen.  

Wie reagiert darauf der gewöhnliche Mann ? Nimmt er sich die Mühe, die Richtigkeit der Gerüchte zu überprüfen oder zieht er es vor, auf Konto sicher zu gehen ? Alles hängt natürlich vom Temperament des Reisenden ab, aber die Meisten werden alles tun um keine Risiken einzugehen.

Diejenigen die entgegen allen Erwartungen es trotzdem wagen, sich in ein anrüchiges Land zu gegeben, stossen dort manchmal auf eine Wirklichkeit, die umso befriedigender ist, als sie sich von den überkommenen Vorstellungen deutlich abhebt.

Erinnern wir uns an Iran, das während langer Zeit als eine mit dem Terrorismus flirtende, obskurantistische Theokratie verrufen wurde. Heute, nach erfolgter Unterzeichnung des Atomkraft-Vertrags, hat sich der Ton erheblich verändert. Delegation um Delegation von Ländern, die sich vor noch kurzer Zeit Iran gegenüber ablehnend zeigten, pilgern heute eiligst nach Teheran um die saftigen Geschäfte, die sie sich mit der wiederentdekten islamischen Republik versprechen, nicht zu verpassen. Sogar die trumpianischen Wendehälse haben nicht damit gerechnet, dass Iran trotz den neuen Feindseligkeiten und Sanktionen gegenüber des grössten Teils der Welt seinen Ruf nicht eingebüsst hat.

Es gelingt den frühern Verächtern anrüchiger Staaten jedoch nicht über die eigenen Schatten zu springen.

Um zu illustrieren, was gerade geschrieben wurde, können wir uns auf einen Titel beziehen, der in einer führenden französisch-schweizerischen Tageszeitung nach der Unterschreibung des Vertrags, im Juni 2015, erschien.

Der Titel sagte: „Heute knüpft der Iran wieder an die Welt an“

Die Einfachheit des Satzes bewirkt, dass ihn jedermann verstehen und zu eigen machen kann : der Satz ist jedoch direkt dem Katalog der übernommenen Vorstellungen, wie diese oben definiert wurden, entnommen.

Diese Vorstellungen beziehen sich auf Ideen, die in den reichen Länder noch vorragend sind und die das Beharren auf einer Vorstellung der Welt beweisen, welche die Wirklichkeit schrittweise ihres Sinnes ausleert.

Genauer betrachtet hat nicht der Iran an diejenigen, die hochmütig das Land übersahen, wieder angeknüpft : nach seiner Weigerung, sich dem Willen der Vereinigten Staaten von Nordamerika unterzuwerfen, war er vor einiger Zeit durch diese von ihren Verbündeten unterstützten Großmacht einer Reihe von Sanktionen unterworfen worden. Nun schafft die Vereinbarung diese Sanktionen praktisch ab und sollte dem Iran ermöglichen, einfach seine internationalen Beziehungen wieder zu normalisieren.

An zweiter Stelle empfiehlt es sich, den Begriff „Welt“, dessen Sinn durch die Hauptströmungs-Medien (auf Englisch, mainstream) erheblich verändert wurde, genauer zu untersuchen. Gemäss der üblichen Bedeutung versteht man Welt als die Gesamtheit unseres Planeten. In der von den reichen Ländern vorgeschrieben, politisch korrekten Sprache wird das Wort (abwechselnd mit „internationale Gemeinschaft„) benutzt um sich selber zu bezeichnen, ohne sich jedoch zu erkennen zu geben.

Der Iran hätte sich also während der Sanktionen von der Welt abgeschnitten?

Sicher nicht, da das Land stets intensive politische, wirtschaftliche und soziale Beziehungen mit dem größten Teil der Welt (in seiner gewöhnlichen Bedeutung) unterhalten hat.

Dass sich eine Gruppe reicher Staaten immer noch für die Welt als ein Ganzes hält entspricht heute nicht mehr der Wirklichkeit und zeugt von einer falschen Einschätzung der herrschenden Machtverhältnisse.

Leider ist diese Haltung, die einer Tradition entspricht und deren Wurzeln für die Einen in der kolonialen Vergangenheit, für die anderen in den täuschenden Träumen einer Welthegemonie liegen, in der reichen Welt immer noch üblich.

Aufzeichnungen, die man bei einem Reiseplan, besonders in einem von der internationalen Gemeinschaft verrufenen Land, im Gedächtnis behalten sollte.

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